Die solarcomplex AG hat Ortschaftsräte und Mitglieder des Arbeitskreises Klimaschutz am 8. März zu einem Vororttermin eingeladen. Vorstand Edgar Kunz sowie die Projektverantwortlichen standen im Firmensitz des Unternehmens in Singen für Fragen der Gäste bereit. Ein Besuch der im Bau befindlichen Anlage in Häusern im Schwarzwald schloss den Tag ab.
„Wollt ihr noch ein weiteres Heizhaus sehen?“, tönt es fröhlich vom Steuer des Bullis. Draußen zieht der Schwarzwald vorbei, die Sonne scheint – seit langem mal wieder. Am See war es die letzten Tage trüb. Tut gut. Der Diesel brummt monoton vor sich hin, die Augen fallen zu. „Och nöö!“ kommt es schwach von hinten zurück. „Reicht eigentlich!“. Ein paar Ortschaftsräte und Klimaschützer hängen schlapp in den Sitzen, es ist schon nach fünf, nachmittags. „Habt ihr da hinten überhaupt noch Luft?“ kommt es vergnügt von vorne, während der Fensterheber seine Arbeit tut. Die frische Luft belebt tatsächlich, Zeit den Tag Revue passieren zu lassen:
Achtuhrfünfzehn Abfahrt Thingolthalle. Insgesamt neun Dingelsdorfer aus Klimaschutzarbeitskreis und Ortschaftsrat sind der Einladung gefolgt, sich zusammen mit Vertretern der Firma solarcomplex über das Nahwärmeprojekt in Dingelsdorf auszutauschen und später eine im Bau befindliche Anlage in Häusern im Schwarzwald zu besichtigen. Thom Weber, bei solarcomplex Teil des Nahwärme-Projekt-Teams, chauffiert die Delegation nach Singen zum Sitz der Aktiengesellschaft. Auf der Fahrt wird gelacht, geplaudert die Atmosphäre ist vertraut.
Vorort in Singen
In Singen wird Kaffee mit Butterbrezen gereicht. Bene Müller (Vorstand Vertrieb und Marketing) begrüßt die Gruppe, Rede und Antwort stehen im Anschluss Edgar Kunz (Vorstand Technik) sowie Jan Weber (Projektplaner) und Thom Weber. Das, was wie eine Klassenfahrt begann, wechselt jetzt schnell ins Professionelle.
Das Wichtigste zu Anfang: 441 eingereichte Interessensbekundungen für Dingelsdorf und Wallhausen waren für solarcomplex die Basis, um in die konkrete Planungsphase einzusteigen. Werden 80% davon zu Wärmebeziehern, ist das Netz wirtschaftlich zu betreiben. Aus Oberdorf kamen bislang leider zu wenige Rückmeldungen, ein Anschluss würde sich nach heutigem Stand nicht lohnen.
Die Anzahl der Interessensbekundungen gibt Aufschluss darüber, wie groß die Heizanlage bemessen werden muss: geplant wird derzeit mit 12 Gigawatt Wärmebedarf pro Jahr, die über voraussichtlich 19 Kilometer Leitungsnetz in die Haushalte transportiert werden sollen. Dabei wird ein Teil der Wärmeenergie aus dem Bodensee entnommen und mit Hilfe zweier Wärmepumpen auf eine Netztemperatur von 80° gebracht. Diese hohe Temperatur ist erforderlich, um den Gebäude-Altbestand mit ausreichend Wärme zu versorgen. Allein für Neubauten wären deutlich geringere Temperaturen ausreichend.
Alle Gebäude mit Anschlussinteresse sind in einem Ortsplan rot markiert, so verschaffen sich die Planer einen Überblick darüber, in welchen Straßen ausreichend Wärmeabnahme zu erwarten ist. Werden 500 kWh pro Jahr und Meter unterschritten, lohnt es sich nicht, Rohrleitungen zu verlegen: allein 40 bis 50% der Projektkosten stehen für den Tiefbau an.
Wie die kleinen Geschwister in Wohngebäuden machen Großwärmepumpen aus natürlicher Wärme – in unserem Fall aus dem See – mit Hilfe von Strom mehr Wärme. Dabei beschreibt die Jahresarbeitszahl bzw. der COP (Coefficient of Performance) das Verhältnis von Nutzwärme zu aufgewendeter elektrischer Energie. Für die geplante Anlage, die voraussichtlich am Klausenhorn-Sportplatz errichtet werden soll, wird mit einem COP von 2,5 bis 3 gerechnet. Konkret bedeutet das, dass etwa 5 Gigawatt zusätzlicher Strom benötigt wird, der zum Teil durch eine Freiland-PV-Anlage auf einer Fläche von 2-3 ha erzeugt werden soll. Die fehlende Strommenge wird aus dem Netz bezogen – 100% regenerativ. Um diesen Bezug möglichst gering zu halten, wird die Leistung der Wärmepumpen in voraussichtlich 3 jeweils 1000m³ großen Pufferspeichern gespeichert und ermöglicht so einen Bezug von Wärme auch dann, wenn nachts kein PV-Strom mehr zur Verfügung steht.
Neben den Wärmepumpen ist zur Gewährleistung der Ausfallsicherheit und zur Abdeckung von Spitzenlasten ein Ölkessel mit 4 bis 6 Magawatt Leistung vorgesehen. Durch die lange Aufheizphase beispielsweise eines Hackschnitzelofens sind nachhaltigere Lösungen für diesen Zweck nur begrenzt geeignet, zumal wirtschaftliche Gesichtspunkte die Alternativen nochmals einschränken: Gas steht am Standort der Heizzentrale nicht zur Verfügung und eine Holzlösung wäre zudem um ein Vielfaches teurer. Es gilt, zeitnah eine deutliche CO₂ Reduktion zu erreichen, alte Heizanlagen zu ersetzen und nicht eine perfekte, aber unwirtschaftliche Lösung anzustreben. Ein Nahwärmenetz, wie es solarcomplex plant, ist modular aufgebaut. Technische Neuerungen, bessere und effizientere Lösungen können deutlich besser implementiert werden, als das in einem dezentralen Modell, wie es derzeit in den deutschen Städten vorherrscht, möglich ist.
Aller Voraussicht nach wird die für das Frühjahr 2024 angekündigte Bürgerversammlung zu Beginn des zweiten Quartals stattfinden. Damit zu diesem Zeitpunkt ein Wärmepreis genannt werden kann, müssen die Projektverantwortlichen von solarcomplex alle wesentlichen Fragen geklärt haben: die technischen Planungen laufen derzeit deswegen auf Hochtouren. Im Nachgang zur zweiten Bürgerversammlung erfolgen Vororttermine bei den potenziellen Wärmeabnehmern. Die technischen Voraussetzungen müssen in jedem einzelnen Fall geprüft werden: Wie kommt die Wärme ins Haus, wie sind die Platzverhältnisse im Keller und wo kann die Wärmeabnahmestation installiert werden? Gib es Pufferspeicher oder Solarthermie, die weiterbetrieben werden können? Spätestens zu diesem Zeitpunk kann auch jeder Hausbesitzer seine individuellen Fragen an die Experten von solarcomplex richten.
Nach diesem Schritt wird das finale Netz bestimmt. Alle Interessenten, alle Besitzer der begutachteten Gebäude, bekommen Verträge zugeschickt, die sie innerhalb einer First unterzeichnet zurücksenden müssen, sofern sie sich für einen Anschluss entscheiden. Alle eingegangenen Dokumente definieren letztlich die Struktur des Nahwärmenetzes. Entspricht dieses Bild dem wirtschaftlich Notwendigen, unterzeichnet solarcomplex die Verträge ebenfalls und schließt damit die Planungsphase ab. Läuft bis dahin alles wie geplant, könnten 2025 die Baumaßnahmen starten. Bis dann allerdings alle Gebäude angeschlossen sind, werden wohl drei Jahre vergehen, das zumindest bestätigen die Erfahrungen der vielen anderen bereits abgeschlossenen Projekte.
Nahwärmeverträge, die mit der solarcomplex AG geschlossen werden, orientieren sich ausschließlich an der AVB Fernwärme. Die Vertragslaufzeit wird 10 Jahre betragen und verlängert sich nach Ablauf um weitere 5 Jahre, mit einer Kündigungsfrist von 9 Monaten vor Ablauf. Die Preisgleitklausel bleibt auch nach Verlängerung der Verträge bestehen.
Wer sein Interesse bis jetzt noch nicht bekundet hat, hat nach wie vor die Möglichkeit dies zu tun. Selbst während der Tiefbauarbeiten haben sich bei anderen Projekten noch Eigenheimbesitzer für einen Anschluss entschlossen. Mit einem Schmunzeln wird dann gerne von ‚Baggeraquise‘ geredet. Die Planer gehen davon aus, dass sich selbst nach Abschluss der Baumaßnahmen pro Jahr bis zu 4 weitere Haushalte anschließen lassen, zu dann allerdings höheren Kosten. Sogenannte Vorverlegungen sind ebenfalls möglich: ohne Wärme zu beziehen wird der Nahwärmeanschluss bis ans Gebäude gelegt, um einen späteren Bezug von Wärme ohne aufwändige Baumaßnahmen zu ermöglichen. Zu bedenken sind hier höhere Gesamtkosten für den Kunden, die sich u.a. auch durch fehlende Förderung definieren, da nur der Ersatz einer fossilen Heizung gefördert wird, nicht aber die vorbereitenden Maßnahmen.
Generell wird der Kunde einen Grundpreis und einen Betrag für die Wärmemenge zahlen, die er abnimmt. Der Grundpreis bildet dabei einen fixen Betrag ab, der dem Betreiber einen planbaren Ertrag sichert. Zwei Ansätze sind hier in Diskussion: entweder ein niedriger Grundpreis, dafür eine einmalige Anschlussgebühr, oder aber ein höherer Grundpreis ohne Anschlussgebühr. Wie das aussehen wird, hängt in nicht unwesentlichem Maße an den Fördertöpfen, die für derartige Projekte bereitstehen. Die Gesamtkosten des Projektes können ggf. erheblich reduziert werden, wenn sich die Förderungen auf den Betreiber und die Wärmeabnehmer verteilen. Das wäre z.B. bei Anschlussgebühren der Fall, die nämlich bis zu 50% vom Staat übernommen werden. Trüge Solarcomplex die Kosten für den Gebäudeanschluss, fiele die absolute Fördersumme unter Umständen geringer aus. Der Preis für die Wärmemenge auf der anderen Seite definiert sich vor allem durch den Gesamtstrompreis, der wiederum durch den Strommarkt und die Kosten der durch Bau und Betrieb der geplanten PV-Freiflächenanlage bestimmt wird.
Vorort in Häusern im Schwarzwald
Ein Teil der Delegation musste sich nach dem etwa zweistündigen Gespräch in der solarcomplex-Zentrale verabschieden. Für die anderen ging es nach Häusern in den Schwarzwald. Hier wurde die im Bau befindliche Heizzentrale besichtigt. Anders als in Dingelsdorf/Wallhausen sind zwei Hackschnitzelöfen für die Erzeugung der Wärme für insgesamt 175 geplante Anschlüsse (und etwa 45 Vorverlegungen) verantwortlich. Damit wird das Netz, wenn es voraussichtlich 2025 fertiggestellt worden ist, etwa zwei Drittel der Größe erreichen, die sich für Dingelsdorf/Wallhausen derzeit abzeichnet.
Wieder zurück
Die Mitarbeiter von solarcomplex haben sich alle Mühe gegeben, das komplexe Projekt den staunenden Laien in verdaubaren Happen darzureichen. Ganz im Sinne der Firmensatzung vermittelt das Unternehmen den Eindruck, in ihrem fachlichen Umfeld das Beste für die Region erreichen zu wollen. Die Dingelsdorfer und Wallhausener Bürger dürfen Teil dieses Strebens sein – wenn sie denn weiter am Ball bleiben.
Das Brummen des Motors verstummt und der Bulli spukt am Kreisel in Dingelsdorf die müden Exkursionsteilnehmer aus. Thom winkt fröhlich, startet den Motor erneut und braust davon. Für heute hat er Feierabend. Und alle Zurückgelassenen hoffen, daß er die nächsten Jahre regelmäßig in Dingelsdorf auftauchen wird, denn dann wird sie kommen, unsere Nahwärme!